Ökologie – die stille Revolution der benachteiligten Viertel
ÖkologieDie stille Revolution der benachteiligten Viertel
Ökologie – die stille Revolution der benachteiligten Viertel
Grüne Ameisen in Pariser Vorstädten
2009 hat Marie-Noëlle Bot ihren Job als Designerin aufgegeben, der „der Konsumgesellschaft diente“, und zieht seither mit Les Fourmis Vertes (dt. Die grünen Ameisen), einem Verein zur Aufklärung über Umweltschutz, durch die Pariser Vorstädte.
Ihrer Ansicht nach haben Menschen, die in extremer Armut leben, ebenso wie besonders reiche Leute, am wenigsten Umweltbewusstsein: „Wir richten uns an die Ärmsten, aber in den wohlhabenden Vierteln würden wir es genauso machen, denn die Reichsten sind die größten Umweltsünder.“
„Das Leben in den wirtschaftlich schwachen Vierteln bedeutet jetzt schon eine soziale Benachteiligung. Bald wird es auch eine ökologische Benachteiligung bedeuten“, warnte Philippe Rio, Bürgermeister von Grigny (Essonne) und Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs, im Dezember 2015 in einer Kolumne der Zeitung Les Echos. Er betont, dass die Bewohner der Hochhaussiedlungen durch ihre wirtschaftliche Situation teilweise gezwungen sind, den Umweltschutz zu vernachlässigen. Dennoch gehören gerade sie zu den ersten Opfern ökologischer Probleme. Die Bevölkerung dieser Viertel wohnt oft in der Nähe von Schnellstraßen und gefährlichen Industriegebieten und leidet unter Umweltverschmutzung, schlechten Wohnverhältnissen und Junkfood. Daher ist es dringend notwendig, diese Menschen für den Umweltschutz zu sensibilisieren.
Ökologie für alle
Ökologie für alle
Neben Les Fourmis Vertes sind in den benachteiligten Vierteln auch viele andere Umweltinitiativen aufgeblüht. Gemeinsame Gärten sind die konkretesten Beispiele dafür. Sie bringen die Bewohner nicht nur mit der Erde in Kontakt, sondern lassen auch Freundschaften wachsen.
In Marseille wird im Jardin des Aures seit mehr als fünfzehn Jahren Gemüse angebaut. Er liegt mitten in den nördlichen Vierteln, die von Kriminalität und Gewalt geprägt sind. Unterschiedliche Einrichtungen teilen sich das Grundstück: eine evangelische Kirche, der Gemeinschaftsgarten und Bricabracs, ein alternatives Lernzentrum. Das Ganze gehört zwar der Reformierten Kirche, aber Menschen aller Religionen und sozialen Schichten sind im Garten willkommen. Dort wird gejätet, gesät und geschwatzt. Die Freiwilligen und die Kinder von Bricabracs sind begeistert.
Mithilfe der Ökologie das Viertel gestalten
Mithilfe der Ökologie das Viertel gestalten
In Nantes hat das Viertel Malakoff von diesem Programm profitiert. Nach zehnjährigen Bauarbeiten glänzen die Fassaden. Doch für einige Bewohner haben diese Jahre einen bitteren Beigeschmack. Sie werfen den Behörden mangelnde Abstimmung mit der Bevölkerung vor.
„Es ist auf jeden Fall besser als vorher, aber etwas mehr Grünflächen und Farbe wären schön gewesen“, bemerkt Emmanuelle, genannt „Manou“, die seit mehr als fünfzehn Jahren in dem Viertel wohnt. „Uns stört nicht die Sache an sich, sondern die Form. Wir haben uns übergangen gefühlt, obwohl wir diejenigen sind, die hier wohnen, das hier ist unser Zuhause.“
Infolge dieser Sanierungsarbeiten gründete sie 2012 zusammen mit zwei anderen Einwohnerinnen des Viertels den Verein Idéelles. „Wir wollten zeigen, dass der öffentliche Raum allen gehört. Unser Ziel war es, alle an einem Tisch zu versammeln, auf derselben Ebene, um wirklich eine bürgernahe Demokratie zu schaffen.“
Als konkrete Maßnahmen haben sie gemeinsam mit anderen Bewohnern Gemeinschaftsgärten angelegt und in Zusammenarbeit mit anderen städtischen Vereinen einen großen Kompostierer installiert. Außerdem organisieren sie verschiedene Aktivitäten, bei denen die Bewohner einander kennenlernen können. „Wir beweisen, dass auch wir unsere Ideen verwirklichen können“, sagt Manou lächelnd.
Der „Umsonstladen“Ein Ort des Austauschs in vielerlei Hinsicht
Schenken ist ein Schlüsselwort der Idéelles, die auch für alle interessierten Nanteser eine kostenlose Kompostverteilung organisiert haben – eine gute Gelegenheit, um neue Leute kennenzulernen und das Bild von Malakoff aufzubessern, erläutert Manou: „Wir sind nicht so, wie das übrige Nantes uns sieht. Wir sind in diesem Viertel sehr glücklich. Wir leben hier in Sicherheit und können uns entfalten. Unser Ziel ist es also auch, das Image des Viertels zu verändern.“
Soziale und ökologische Ungleichheit – derselbe Kampf
Soziale und ökologische UngleichheitDerselbe Kampf
Die französischen Viertel mit dem geringsten Pro-Kopf-Einkommen heißen „quartiers prioritaires“ (dt. Brennpunktviertel). Die Armutsquote ist dort mit 60 Prozent viermal so hoch wie im französischen Durchschnitt (16 Prozent). 2015 war die Arbeitslosenquote unter den 15- bis 64-Jährigen um 16 Prozentpunkte höher als in anderen städtischen Siedlungen .
Das Viertel Les Buers in Villeurbanne im Großraum Lyon gehört zu diesen sogenannten Brennpunktvierteln. Auch dort sind Vereine oft die direktesten Zeugen schwieriger Lebensumstände. „Aus sozialen Notlagen entstehen auch Krankheiten wie Übergewicht. Zudem führt die geografische Lage in der Nähe der Ringautobahn bei einigen Leuten zu Asthma“, gibt Lise Cadat von Légum’au Logis zu bedenken.
Denn Ökologie und Ökonomie hängen zusammen, bekräftigt Marie-Noëlle von den Fourmis Vertes. Ihrer Ansicht nach unterliegt der Konsum in diesen Vierteln oft gewissen Zwängen. Die Bewohner können die Kontrolle darüber zurückgewinnen, indem sie ihre Gewohnheiten ändern. „Wir bringen die Menschen durch konkrete Dinge zum Umweltschutz, durch das, was ihnen im Alltag hilft, und das ist vor allem die Möglichkeit, günstiger einzukaufen“, betont sie. Sie zählt verschiedene Möglichkeiten auf, um zu sparen: nicht abgepackte Ware kaufen, natürliche und einfache Reinigungsmittel verwenden und möglichst kein Wasser verschwenden. „Die Leute vergessen, dass das auch weniger Ausgaben bedeutet“, erklärt Marie-Noëlle.
Regeln der Zusammenarbeit
Regeln der Zusammenarbeit
Deshalb hat sie für ihre Aktionen eigenes Material entwickelt. „Es war eine Herausforderung, so etwas gab es vorher nicht, also haben wir mit Architekten zusammengearbeitet, die für uns diesen freundlichen Kleintransporter entworfen haben“, erklärt sie. Sie parkt vor Schulen oder Wohnblocks und öffnet dann, wie eine Mary Poppins der Vorstädte, ihr Fahrzeug, um damit einen zugleich geschützten und offenen Raum zu schaffen, mit einem Veranstaltungszelt, Stühlen, einem Bildschirm und Spielen. Marie-Noëlle und ihre Mitarbeiter führen manchmal Sketche auf, um den Ort „attraktiv und einladend“ wirken zu lassen.
Auch Sophie Doloir vom Jardin des Aures erklärt, dass es manchmal schwierig ist, Bewohner in den Garten einzuladen. Das Grundstück ist zum Schutz gegen Vandalismus abgeschlossen, was manche Leute abschreckt. Sie fügt hinzu, dass man „die Vielfalt in diesen Vierteln, in denen verschiedene Ethnien und Kulturen zusammenleben“, berücksichtigen muss. Wer in den nördlichen Vierteln arbeitet, muss „gewisse Regeln“ kennen, um sich mit den Bewohnern besser verständigen zu können.
Es kommt auch vor, dass sich die Politik für die Arbeit der Vereine interessiert, aber sie versteht sie nicht, weiß nicht, wie sie mit ihnen zusammenarbeiten soll, oder weigert sich – wie bei der Agrocité, einem städtischen Bauernhof in Colombes (Hauts-de-Seine). Bis Februar 2017 war er zwei Jahre lang von der Schließung bedroht. Grund: der Bau eines Parkplatzes für 182 Autos. Eines Morgens wurde der Bauernhof zwangsgeräumt, ohne Vorwarnung an die Leitung oder die Bewohner.
Das wollten weder die Vereine noch die Bewohner akzeptieren. Nach einem harten Kampf wird schließlich Gennevilliers, eine andere Pariser Vorstadt, den Bauernhof aufnehmen.
Trotz Missverständnissen und manchmal einer gewissen Desillusionierung auf allen Seiten bleibt der Dialog mit der Politik unumgänglich und muss verstärkt werden. Dennoch sind sich die verschiedenen Vereine in einer Sache einig: „Es ist eine langwierige Arbeit, die in kleinen Schritten vorangeht, aber die Veränderung wird von uns kommen.“
Die Akteure von morgen
Die Akteure von morgen
Teilweise ist die Distanz zwischen den Vereinen und Bewohnern einerseits und den Behörden andererseits noch sehr groß. An anderen Orten gelingt die Zusammenarbeit.
In beiden Fällen beweisen die benachteiligten Viertel seit Jahren, dass sie sich organisieren und Lösungen anbieten können. Durch oft stille, aber stets positive Aktionen im Alltag werden sie zu den Schlüsselakteuren im Kampf gegen den Klimawandel.
Impressum
Impressum
Text, Bild und Ton: Constance Bénard und Marine Leduc
Deutsche Übersetzung und Untertitel: Marion Herbert
Redaktion: Stephanie Hesse
Copyright: Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland Lizenz
Goethe-Institut Frankreich - Juni 2017